Ich bin ja kein großer Fan der „künstlichen Intelligenz“ und ihrer Tools wie Large Language Models, um die es zur Zeit einen erheblichen Hype gibt, weil sie plausibel klingende Texte generieren können. Meine Kritikpunkte habe ich letztes Jahr in einem Discussion Paper zusammengeschrieben: Die Nachteile, Risiken und Grenzen, die ich dort beschrieben habe, bestehen weiterhin, bzw. sind eher noch mehr geworden.
Umso schöner, einen unerwarteten Verbündeten zu finden: Rainer Maria Rilke (1875-1926), dessen Lyrik ich sehr schätze. Was ich noch nicht wusste, ist, dass er sich (in den Sonetten an Orpheus) auch als Technologieskeptiker hervorgetan hat. Was Rilke über die Industrialisierung seiner Zeit schreibt, lässt sich doch recht gut auf unsere künstliche Intelligenz beziehen:
Die Sonette an Orpheus, Erster Teil XVIII (1922), aus Rilke (1991)
Hörst du das Neue, Herr,
dröhnen und beben?
Kommen Verkündiger,
die es erheben.
Zwar ist kein Hören heil
in dem Durchtobtsein,
doch der Maschinenteil
will jetzt gelobt sein.
Sieh, die Maschine:
wie sie sich wälzt und rächt
und uns entstellt und schwächt.
Hat sie aus uns auch Kraft,
sie, ohne Leidenschaft,
treibe und diene.
Die Verkündiger unserer Tage sind für mich die Leute, die uns erzählen, dass KI alle kreativen Tätigkeiten übernehmen kann, und zwar schneller und günstiger als Menschen. So sind bereits Jobs im Marketing betroffen, und auch in der Softwareentwicklung werden beherzt Stellen abgebaut, was möglicherweise gar nicht so sinnvoll ist. Kurz gesagt geht es in beiden Fällen nicht nur darum, plausibel aussehenden Text/ Code zu erstellen, sondern auch um ein Verständnis der größeren Strukturen, in die er eingebettet ist. Außerdem müssen ja neue, unerfahrene Kolleg:innen an einfachen Aufgaben die Fähigkeiten üben, die sie für komplexe Tätigkeiten brauchen… So kann eine einfache Automatisierung möglicherweise Kosten sparen, aber auch ganz andere Probleme erzeugen.
So oder so kann man sich vorstellen, wie die Verkündiger vor hundert Jahren die Maschinen erhoben und gelobt haben. Der Schlusssatz, nach dem die Maschine dienen sollte, deckt sich mit vernünftigeren Vorschlägen zur Nutzung von KI-basierten Tools: Sie sollten menschliche Kreativität unterstützen, aber nicht ersetzen.
Weiter geht’s:
Die Sonette an Orpheus, Zweiter Teil X, aus Rilke (1991)
Alles Erworbne bedroht die Maschine, solange
sie sich erdreistet, im Geist, statt im Gehorchen, zu sein.
Daß nicht der herrlichen Hand schöneres Zögern mehr prange,
zu dem entschlossenern Bau schneidet sie steifer den Stein.
Nirgends bleibt sie zurück, daß wir ihr ein Mal entrönnen
und sie in stiller Fabrik ölend sich selber gehört.
Sie ist das Leben, - sie meint es am besten zu können,
die mit dem gleichen Entschluß ordnet und schafft und zerstört.
Aber noch ist uns das Dasein verzaubert; an hundert
Stellen ist es noch Ursprung. Ein Spielen von reinen
Kräften, die keiner berührt, der nicht kniet und bewundert.
Worte gehen noch zart am Unsäglichen aus...
Und die Musik, immer neu, aus den bebendsten Steinen,
baut im unbrauchbaren Raum ihr vergöttlichtes Haus.
Die Maschine (Industrialisierung) bedroht also erworbene Fähigkeiten und handwerkliche Traditionen, weil sie entschlossener und ohne Zögern vorgeht. Dabei fehlt ihr das schöne Zögern menschlicher Tätigkeit sowie jegliches Bewusstsein für den Zweck der Arbeit („ordnet und schafft und zerstört“). Genauso sehen wir heute kreative Berufe bedroht – von Texter:innen über Journalist:innen bis zu Programmierer:innen.
Rilkes1 Antwort darauf ist wiederum die Aufforderung, dass die Maschine eine dienende Funktion haben sollte (eben nicht „im Geist“ sein soll, also autonom denken, sondern „im Gehorchen“, also Befehle ausführen). Ich stelle mir vor, dass man so auch KI konstruktiv nutzen kann: Wenn sie die Menschen, die Texte oder Code schreiben, mit ihren Fähigkeiten unterstützt, die kreativen Entscheidungen aber von Menschen getroffen werden.
Rilke hat die Industrialisierung mit seinen Gedichten natürlich nicht aufgehalten, aber trotzdem gibt es ja auch heute noch (Kunst-)Handwerker, deren „herrliche Hand“ schöne Dinge erschafft. So ist auch uns noch „das Dasein verzaubert“, indem wir von schönen, von Menschen gemachten Dingen umgeben sind, aber wie lange noch?
Rilke, R. M. (1991). Werke in drei Bänden. Insel.
- schon klar: nicht Rilkes Antwort, sondern die des lyrischen Ichs ↩︎